Der größte Ministerpräsident aller Zeiten hat es wahr gemacht. In eilfertiger Beflissenheit dem Skifahren den Garaus zu machen, ziehen ab der kommenden Woche auch Tagesausflüge in Risikogebiete - also derzeit überall hin - 10 Tage Hausarrest nach sich. Da es in den Sternen steht, wann man wieder ohne Quarantäne-Drohung nach Tirol kann, möchte ich eine angemessene Farewell-Tour machen. Skitouren sind derzeit nur am Gletscher möglich und das nur mit Tragen bis zur Mittelstation. Da macht eine Bergtour mehr Sinn, und das wohl auch allein, denn beide Peters sagen ab.
Die Rumer Spitze mit ihrem langen Südanstieg vom Inntal liegt für solche Zwecke schon länger in der Schublade. Doch Samstagabend kommen mir Zweifel. Da sind zuviele verschärfende Faktoren. Das Tageslicht reicht kaum für die angegebenen 10h reine Gehzeit. Es ist unklar, ob es kleinräumig nicht doch eisig ist. Die geplante Überschreitung schränkt zudem Rückzugsmöglichkeiten ein und ich muss damit rechnen, völlig allein unterwegs zu sein. Der Drachenkopf ist ähnlich anspruchsvoll, aber 3h kürzer und schneller zu erreichen. Also in die Mieminger.
Wie angekündigt reisst an der Talstation der Ehrwalder Almbahn die bis dahin dichte Wolkendecke auf, während es nördlich der Zugspitze den ganzen Tag über dicht bewölkt bleiben wird. Im noch tiefen Morgenlicht starte ich kurz nach 8:00 unter den rot angeleuchteten Gipfeln von Zugspitze und Daniel. Es ist ordentlich frostig, die und ganze Landschaft ist von glitzerndem Raufreif überzogen. Wow, das könnte was werden.
Zügig steige ich den Hohen Gang hinauf, an dem ich die einzigen zwei Begegnungen des Tages hab. Ein Gamsbock pfeift und faucht wütend, dass ich in sein Revier eindringe und wenig später überholt mich ein junger Bergläufer, mit dem ich ein paar Worte wechsle. Abgesehen davon wird des den ganzen Tag komplett einsam bleiben. Der obere felsige Teil des Hohen Gangs ist mit frischen Drahtseilen fast überversichert. Da es aber recht verschneit und eisig ist, sind die Seile gerade später im Abstieg sehr angenehm.
Nach 1:10h verlasse ich den hohen Gang und erreiche wenig später den zugefrorenen Seebensee. Ups, das hatte ich nicht erwartet: Dunkel, frostig und verschneit liegt dieses wunderbare Hochtal vor mir und ich begreife, dass nicht nur jetzt sondern wohl bis Anfang März hier kein Sonnenstrahl eindringen wird. Selbst die Gipfel liegen noch komplett im Schatten, außer natürlich der Sonnenspitze, die ihren Name alle Ehre macht.
Schaun wir mal, denke ich mir und steige zunächst zur verschlossenen Hütte hoch, die ich nach 1:50h erreiche, immerhin fast die gleiche Zeit wie vor 14 Jahren mit Mitte dreißig. Der Drachenkopf liegt immer noch im Schatten, so dass ich mich auf dem weiteren Weg unter etwas Herzklopfen entscheide auf die Sonnenspitze zu umzudisponieren.
Oberhalb des Schuttfeldes unter dem Südgrat trete ich endlich nach knapp 2:20h in die Sonne und mach erstmal Brotzeit. Auf dem Gipfel des Drachenkopfes meine ich kurz den Bergläufer von heute früh auszumachen. Ja, wenn man größer als 1,90m ist, könnte man am Gipfel einen leichten Sonnenstrahl im Gesicht abbekommen, mehr aber nicht.
Kurz hinter meinem Rastplatz beginnt die Kletterei mit der ersten Rinne. Tatsächlich, das ist definitiv ein IIer. Nicht wirklich ausgesetzt, aber abrutschen sollte man hier auch nicht. Den Gedanken an den Rückweg versuch ich zu verdrängen. Wenigstens ist die Wegfindung einfach und der Fels trocken und griffig.
Nach etwa 20min folgt eine wirklich heikle Stelle, eine ausgesetzte, abschüssige Querung auf der Ostseite. Komplett verschneit, ausgesetzt und ohne Haltemöglichkeit. Ein paar Fußstapfen vom Vortag beweisen aber die Machbarkeit. Nach etwas Zögern reiß ich mich zusammen und bewältige das ganz ordentlich.
Danach geht es gleich knackig mit der 2. Rinne weiter. Diese Rinne ist eher ein Kamin, auf die ich seit der Großen Zinne nicht gut zu sprechen bin. Ausgesetzt ist es nicht, aber 3m kann man auch runterfallen. Erfreulicherweise bietet das Gelände gutartige IIer-Tritte und oben, wo es deutlich schwieriger wird, entschärfen zwei Eisenkrampen. Nach der Rinne hilft Gott sei Dank ein Drahtseil über ein schmales, luftiges Band hinweg, das ich ohne Seil nicht angegangen wäre.
Danach wird die Kletterei leichter und geht sanft in schrofiges Gehgelände über. Wenig später steht man recht unvermittelt am Hauptgipfel, keine 20m Luftlinie vom Gipfelkreuz. Trotzdem ist das verbleibende Stückchen zum Kreuz das psychisch herausfordernste. Schmal, verschneit und super ausgesetzt ist noch eine 3m tiefe Scharte zu überwinden, von hier sieht die Kletterei mehr nach IIIer als nach Ier aus. Wieder zögere ich, wieder reiß ich mich zusammen, und es erweist sich als deutlich leichter als es den Anschein hatte. Bingo, 3:45h, meine zweite Besteigung der Ehrwalder Sonnenspitze (2.412m). Prachttour an einem Prachttag.
Ich bleibe nur ganz kurz oben, diese Tour ist erst nach dem Abstieg geschafft. Der Abstieg über die leichtere Nordseite kommt nicht in Frage, zu groß ist das Risiko hier auf unüberwindliche Eis- und Schneeverhältnisse zu treffen. Der Abstieg über die Südseite läuft erfreulicherweise bestens, mit jedem Zug werde ich ruhiger und selbstsicherer. Nach knapp 1h bin ich wieder an meinen Rastplatz von heute früh, mache Brotzeit und beginne mich über diesen Coup zu freuen.